Diskussionspapier: Ausweg aus der Migrationskrise durch einen integrierten Lösungsansatz in der Migrations- und Entwicklungspolitik


Vorbemerkung

Der Fokus des vorgestellten Lösungsansatzes liegt vor allem auf Migrationsbewegungen aus der MENA-Regioni, ist jedoch ohne weiteres auch auf andere Fluchtregionen außerhalb der EU übertragbar.

1. Bestandsaufnahme
Abgesehen von den Migrationsbewegungen innerhalb der Europäischen Union und aus den Balkanländern in Richtung der EU-Mitgliedstaaten ist die Lage in den afrikanischen und arabischen Staaten als weitaus schwieriger und komplexer zu bewerten. Als Fluchtgründe werden neben wirtschaftlichen Aspekten vor allem Instabilität, militärische Konflikte und mangelnde Ernährungsmöglichkeiten genannt. Als Ursache dafür wird speziell in Afrika eine völlig verfehlte Entwicklungspolitik der westlichen Industrienationen angeführt. Infolge dieser gescheiterten Entwicklungspolitik sind heute Migrationsbewegungen in Richtung Europa zu beobachten, die nicht nur zu einer humanitären Katastrophe im Mittelmeerraum und einer rasant wachsenden, organisierten Schlepperkriminalität führt, sondern auch zu einer Überforderung in den EU-Staaten, die sich einem verstärkten Zustrom an Flüchtlingen ausgesetzt sehen. Die EU-Kommission spricht mittlerweile von der größten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Folgerichtig fordert der AfD-Bundesvorstand daher unter anderem die Verlagerung der Asylantragsverfahren in die Heimatländer der Flüchtlinge oder in sichere Nachbarländer. Außerdem wird eine Unterstützung für bereits bestehende Flüchtlingslager in der MENA-Region gefordert. Ob diese Maßnahmen allein ausreichen, um die Krise bewältigen zu können, darf jedoch bezweifelt werden. Denn es hält nicht diejenigen von der Flucht ab, deren Motiv Armut und Perspektivlosigkeit ist. Zudem bergen Flüchtlingslager die Gefahr, zu Brutstätten von Extremisten zu werden. Das jedenfalls zeigt die Geschichte der afghanischen Flüchtlinge, die nach der sowjetischen Invasion Afghanistans millionenfach Zuflucht in pakistanischen Flüchtlingslagern suchten, um sich dort angesichts der Perspektivlosigkeit einem radikalen Islam zuzuwenden. Aus diesem Grund scheint es erforderlich, die bislang formulierten Lösungsvorschläge um einen entwicklungspolitischen Aspekt zu ergänzen. Der sich daraus ergebende Lösungsansatz wird im Folgenden näher beleuchtet und zur Diskussion gestellt.

2. Lösungsansatz
Der hier vorgeschlagene Lösungsansatz umfasst im Kern drei politische Forderungen, die nacheinander erläutert werden.

2.1 Forderung einer humanitären EU-Migrations- und Entwicklungshilfemission
EU-Missionen sind nicht neu. Seit 2003 gab es im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mehr als 30 Missionen auf drei Kontinenten. Die Zielsetzungen der Missionen variierten dabei sehr stark und reichten von reinen Militärmissionen (EUFOR Libyen) bis hin zu Rechtsstaatlichkeitsmissionen (z.B. EULEX Kosovo), die weitestgehend durch nichtmilitärisches Personal durchgeführt wurden.

Auch die personelle Ausstattung vergangener EU-Missionen variierte sehr stark und reicht von 22 Mann (EUBAM Rafah – einer Grenzschutzmission im Gazastreifen) bis zu 3700 Mann (EUFOR-Tchad – militärische Absicherung ziviler Maßnahmen).vi Die aktuellste EU-Mission ist die am 22. Juni 2015 von den EU-Außenministern gebilligte EU Naval Force-Mediterranean (EUNAVFOR-Med) zur Bekämpfung des Menschenschmuggels und der Menschenhandelsnetze sowie der Schleuser und deren Infrastruktur im südlichen zentralen Mittelmeer. Die Vielzahl und Diversität der Missionen zeigt, dass die hier formulierte Forderung nach einer weiteren EU-Mission nicht abwegig ist. Die bisherigen Missionen würden nun lediglich durch einen neuen Missionstypen ergänzt: einer humanitären EU-Migrations- und Entwicklungshilfemission. Sie soll den Auftrag haben, im mittelmeernahen Raum Nordafrikas sehr kurzfristig mehrere Migrations- und Entwicklungshilfezentren zu errichten, zu betreiben sowie nach innen und außen abzusichern. Die Zentren erfüllen dabei unterschiedliche Funktionen, wie nachfolgend dargestellt wird.

2.2 Forderung zur Errichtung von EU-Migrations- und Entwicklungshilfezentren in Nordafrika
Die Migrationszentren dienen hauptsächlich zur zentralisierten Prüfung von Asylanträgen für die an der EU-Mission beteiligten Nationen. Alle Asylbewerber aus der MENA-Region sollen diese Zentren durchlaufen und erst nach Gewährung politischen Asyls die EU betreten dürfen. Zuvor in die EU eingereiste Antragsteller werden umgehend zur Asylprüfung in die Migrationszentren überführt. Für die Dauer des Asylverfahrens wird in den Zentren eine umfassende Versorgung, Unterbringung, Betreuung und nicht zuletzt Sicherheit gewährleistet. Um Anreize zu reduzieren, werden ausschließlich Sachleistungen gewährt.

Das beschriebene dezentralisierte Prüfverfahren setzt jedoch eine Verständigung auf einen gemeinsamen EU-Asylstandard und einen EU-Verteilungsschlüssel für Asylberechtigte voraus. Denjenigen, die befürchten, ein Verteilungsschlüssel für Asylberechtigte würde an einzelnen EU-Staaten scheitern, könnte man entgegnen, dass es nun nicht mehr um die Verteilung aller Flüchtlinge in der EU ginge, sondern nur noch um die Verteilung der tatsächlich Asylberechtigten. Da deren Zahl nur einen Bruchteil aller Flüchtlinge ausmacht und die gesellschaftliche Bereitschaft zur Aufnahme tatsächlich asylberechtigter Menschen in den meisten EU-Staaten nach wie vor sehr hoch ist, dürfte die politische Bereitschaft der EU-Staaten, sich auf einen Verteilungsschlüssel für Asylberechtigte zu verständigen, durchaus vorhanden sein.

Wirtschaftsflüchtlinge und abgelehnte Asylbewerber werden nicht unmittelbar abgeschoben, sondern können Zuflucht in den Entwicklungshilfezentren suchen. Ebenso wie in den Migrationszentren werden auch hier zur Verringerung der Anreize ausschließlich Sachleistungen gewährt. Neben der Versorgung, Unterbringung, Betreuung und Sicherheit wird den Flüchtlingen in diesen Zentren jedoch die Möglichkeit gegeben, eine schulische und/oder berufliche Qualifikation zu erwerben. Dadurch soll mittelfristig das Defizit an gut qualifizierten Menschen in den Herkunftsstaaten kompensiert werden. Neben einer basalen Grundbildung werden daher überwiegend fachpraktische Qualifikationen in Ausbildungsberufen wie Pflege, Energietechnik, Trockenbau, Hoch- und Tiefbau, Landwirtschaft, Tischlerei, Groß- und Einzelhandel, Elektronik, Abfallwirtschaft, Versorgungswirtschaft, Finanz- und Verwaltungswesen vermittelt, um nur einige zu nennen. Zugleich erfolgt über den gesamten Zeitraum eine Vermittlung grundlegender Werte und Normen, die heute gemeinhin als Voraussetzung für eine stabile Staatlichkeit angenommen werden (Rationalität, Säkularität, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte etc.). Die Aufnahme in die Entwicklungshilfezentren erfolgt freiwillig. Der weitere Verbleib ist jedoch an zuvor definierte Bedingungen geknüpft (Leistungsbereitschaft, Integrationsbereitschaft, Bereitschaft zwischenmenschliche Konflikte friedlich zu lösen etc.). Verstöße führen zu Rückführungen in das Heimatland. Rückführungen erfolgen außerdem nach Erwerb einer Qualifikation. Allerdings wäre in diesen Fällen ein zusätzlicher monetärer Anreiz denkbar, der als Start-up-Kapital genutzt werden kann. Die Migrationszentren sind damit die Antwort auf die auch vom AfD-Bundesvorstand geübte Kritik an der bisherigen Entwicklungspolitik. Insgesamt betrachtet, handelt es sich bei den Entwicklungshilfezentren quasi um die größten Berufsschulinternate der Welt, mit dem entwicklungspolitisch wünschenswerten Effekt einer Verbreitung von Bildung sowie von demokratieförderlichen Werten und Normen im afrikanischen Raum. In der Politikwissenschaft ist belegt, dass das Vorhandensein dieser Faktoren mit stabiler Staatlichkeit stark korreliert. Zudem würde das gesamte Konzept den derzeit beobachtbaren Brain-Drain-Effekt in den Entwicklungsländern umkehren zu einem Brain-Gain-Effekt, der selbst dann noch vorhanden ist, wenn EU-Mitgliedstaaten sich für Arbeitsmigration öffnen würden. Abstrakt formuliert, erfolgt durch die Entwicklungshilfezentren eine Verlagerung der Entwicklungshilfe von der Makro-Ebene (Entwicklungsunterstützung eines politischen Systems oder eines gesellschaftliche Subsystems) auf die Mikro-Ebene (Entwicklung persönlicher Fähigkeiten). Entwicklungshilfe kommt somit dort an, wo sie am meisten benötigt wird – beim Menschen. Korrupte Machteliten werden also umgangen.

Den Migrations- und Entwicklungshilfezentren kommt neben den beschriebenen Funktionen schließlich auch eine Schutzfunktion zu. In beiden Typen von Zentren erfolgt eine biometrische Datenerfassung aller Personen. Dies erleichtert die polizeiliche Arbeit im Falle einer illegalen Weiterreise in die EU und verhindert Asylmissbrauch und Kriminalität. Zudem könnte extremistisches Personenpotential identifiziert werden, bevor es europäischen Boden betritt.

2.3 Forderung nach Wiedereinführung von Grenzkontrollen/Aufnahmestopp von Flüchtlingen und Asylbewerbern in den an der EU-Mission beteiligten Nationalstaaten
Mit dem Aufbau der ersten Migrations-und Entwicklungshilfezentren muss ein Aufnahmestopp von Flüchtlingen und Asylbewerbern in den an der EU-Mission beteiligten Nationalstaaten erfolgen. Dies ist nicht nur erforderlich, um die Asyl- und Sozialbehörden zu entlasten, sondern auch, um den neuen behördlichen Weg über die Migrations- und Entwicklungshilfezentren durchzusetzen. Vor dem Hintergrund illegaler Grenzübertritte ist die Wiedereinführung von Grenzkontrollen eine notwendige Maßnahme. Nur so können all diejenigen, die nicht den Weg über die Asyl- oder Migrationszentren gehen, effektiv aufgegriffen werden. Aufnahmestopp, Grenzkontrollen und die Möglichkeit der Anlaufstellen in den Migrations- und Entwicklungshilfezentren würden nicht nur zu einer Entlastung in den EU-Mitgliedstaaten führen, sondern auch zu einem deutlichen Rückgang der Fluchtversuche über das Mittelmeer und damit der organisierten Schlepperkriminalität. Die humanitäre Katastrophe würde ein Ende nehmen.

3. Machbarkeit
Die Machbarkeit des vorgeschlagenen Lösungsansatzes hängt von zahlreichen Faktoren ab. Die zentralen Faktoren sind dabei wohl die Kooperationsbereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, der Landerwerb in Nordafrika und die Finanzierung. Sie sollen im Folgenden kurz andiskutiert werden.

3.1 Kooperationsbereitschaft von EU-Staaten
Die Kooperationsbereitschaft einer Vielzahl von EU-Staaten dürfte aus mehreren Gründen vorhanden sein. 1) Regierungen vieler EU-Staaten stehen angesichts der Migrationskrise und deren Folgen zunehmend unter Druck und ein Lösungsansatz scheinen weder die EU noch die Mitgliedstaaten gefunden zu haben. Selbst, wenn man sich auf einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge innerhalb der EU verständigen würde, bliebe der Zustrom nach wie vor bestehen. Genau genommen sorgt der Verteilungsschlüssel auch nicht für eine Lösung der Krise, sondern nur für eine vermeintlich gerechtere Verteilung der Krise auf die EU-Staaten. Einige Staaten planen daher nun hohe Grenzzäune, um Flüchtlinge mit diesem Signal abzuschrecken. Doch die spanische Exklave Melilla aber auch die Situation zwischen Calais und Dover zeigen, dass kein Zaun zu hoch ist und kein Tunnel zu lang ist, um Flüchtlinge effektiv abzuhalten. Kurzum, sollten die Regierungen der EU-Staaten keine tragfähige Lösung finden, steigen die politischen Kosten immer weiter an. Der vorgestellte Lösungsansatz wäre eine solche tragfähige Lösung. Zudem bietet diese Lösung weitere Vorteile. 2) Die dezentrale Lösung in Nordafrika wäre unterm Strich für jeden EU-Staat günstiger als die Bewältigung der Flüchtlingssituation im eigenen Land. Nicht nur der völlige Verzicht auf Geldleistungen trägt dazu bei, sondern auch die Größenkostenvorteile, die sich durch die großen Migrations- und Entwicklungshilfezentren ergeben. 3) Zudem hat die EU-Mission einen humanitären Charakter mit einer ausgeprägten entwicklungspolitischen Komponente. 4) Schließlich würde der vorgeschlagene Ansatz eine politische Krise innerhalb der EU abwenden, die sich dadurch anbahnt, dass einige Mitgliedstaaten nicht geneigt sind einer Kooperationslösung zuzustimmen (Bsp. Ungarn), während andere unter der Situation besonders leiden (Bsp. Griechenland und Italien). Es ist jedoch zu erwarten, dass selbst Ungarn eine nachhaltige EU-Lösung in Nordafrika eher bevorzugt, als den Bau eines Grenzzauns, der das Land innerhalb der EU politisch zunehmend in die Isolation treibt.

3.2 Landerwerb in Nordafrika
Der Erwerb von Land in Nordafrika durch Kauf oder Langzeitpacht ist mittlerweile zur Normalität geworden. Dahinter stecken fast ausschließlich wirtschaftliche Interessen. Unter dem negativen Begriff landgrabbing nutzen Großkonzerne und Investoren seit Jahrzehnten die günstigen Rahmenbedingungen Afrikas (billige Arbeit, geringe Schutzstandards, korrupte Machteliten, viele Sonnenstunden etc.), um durch extensive Land- oder Forstwirtschaft, den Bau von Energiefarmen oder Urlaubsresorts, ihre Gewinne zu steigern. Allein in den letzten zehn Jahren wurde in ganz Afrika 1,3 Mio. km² Land verkauft oder verpachtet.viii Das entspricht der 3,6-fachen Größe Deutschlands. Allein in der Region Nordafrika waren es immerhin noch 62.000km² Landix, was der 1,3-fachen Größe Niedersachsens entspricht. Auch deutsche Unternehmen beteiligen sich am landgrabbing, wie beispielsweise die Firma Acazis AG, die in Äthiopien für 50 Jahre 560km² Land zum Anbau von Castor-Pflanzen gepachtet hat.x Der Erwerb von Land durch die EU für eine nachhaltige Lösung der Migrationskrise sollte angesichts dieser Fakten keine Herausforderung darstellen.

3.3 Finanzierung
Allein in Deutschland belaufen sich die Ausgaben für Flüchtlinge nach aktuellen Schätzungen in diesem Jahr auf mindestens 5 Mrd. Euro und haben sich damit im Vergleich zum letzten Jahr verdoppelt. In Italien wird in diesem Jahr rund 1 Mrd. Euro nur für die Flüchtlingsverpflegung ausgegeben. Für die weiteren EU-Mitgliedstaaten liegen entweder keine Zahlen vor oder sie sind nicht belastbar. Nur eines ist angesichts der beiden genannten Zahlen klar: Die Krise ist teuer. Und sie wird noch teurer. Die vorgeschlagene EU-Mission ließe sich jedoch auch losgelöst von den Ausgaben für Asylbewerber aus den jeweiligen Verteidigungs- und Entwicklungshilfeetats der EU-Mitgliedstaaten finanzieren. Die EU-Mitgliedstaaten gaben im Jahr 2013 zusammen rd. 186 Mrd. Euro für Verteidigung und 2014 rd. 58 Mrd. Euro für Entwicklungshilfe aus. Würde man aus beiden Etats nur 5 Prozent für die EU-Mission aufwenden, stünden jährlich bereits 12,2 Mrd. zur Verfügung. Das sind – nur zum Vergleich – fast 4 Mrd. Euro mehr, als die Gesamtkosten des Afghanistan-Einsatzes der deutschen Streitkräfte von 2001-2014.

4. Fazit
Das hier zur Diskussion gestellte Papier formuliert einen Lösungsansatz zur Bewältigung der gegenwärtigen Migrationskrise. Neben asyl- und flüchtlingspolitischen Forderungen werden auch entwicklungspolitische Aspekte berücksichtigt. Es handelt sich mithin um einen integrierten Ansatz, der die Nachhaltigkeit politischen Handelns stärker in den Mittelpunkt rückt. Der vorgeschlagene Lösungsansatz grenzt sich damit deutlich von den Vorschlägen ab, die derzeit in Politik und Gesellschaft diskutiert werden. Es geht nicht mehr nur um Abschottung, sondern um eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe.

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